Werke und Texte

Geburt und Wiedergeburt

 

Die Lehre von der Wiederverkörperung in den verschiedenen Zeitaltern – Teil 1: Altertum

Die allgemeine Lehre von der Wiederverkörperung oder Reinkarnation ist unter vielen Völkern der Erde weit verbreitet. In allen Zeitaltern und in jeder Menschenrasse wurde sie in der einen oder anderen philosophischen oder religiösen Darbietung gelehrt.

Im alten Indien

In der heutigen Zeit wird diese Lehre, wenn auch nur in mehr oder weniger unvollkommener und unvollständiger Form, unter mehr als drei Vierteln der Weltbevölkerung gelehrt (1935). Tatsächlich hat es eine Zeit gegeben, in der sie absolut universal war. Selbst vor einer so kurzen Zeitspanne wie vor zweitausend Jahren wurde nahezu weltweit in der einen oder anderen Form an sie geglaubt. Die Brâhmanen und Buddhisten Indiens sowie die Völker des fernen und nördlichen Asiens waren und sind noch jetzt „Reinkarnisten“, ebenso die Taoisten in China, die es auch in vergangenen Zeiten waren.

Reinkarnation
„Reinkarnation“ ist ein anglisiertes Wort lateinischer Herkunft mit der Bedeutung „Wieder-ins-Fleisch-Eintreten“, die Wiederkehr einer entkörperten menschlichen Seele in einen menschlichen Körper. Die wiederholte Einkörperung des reinkarnierenden menschlichen Egos in Körper aus menschlichem Fleisch – das ist ein spezieller Teil der allgemeinen Lehre von der Wiederverkörperung.
(Siehe: Gottfried von Purucker: Esoterische Philosophie – Wörterbuch. Hannover, 1990, S. 205)

Griechenland und Rom

Auch die größten und intuitivsten Denker Alt-Griechenlands und Roms waren „Reinkarnisten“ oder Anhänger der allgemeinen Lehre von der Wiederverkörperung in der einen oder anderen Form, den unterschiedlichen Besonderheiten der Lehre entsprechend, die zu den verschiedenen Zeiten vorherrschten. Die Pythagoreer und Platoniker mit den ihnen eigenen verschiedenen Schattierungen der Auslegung hielten an der Lehre fest. Unter den Römern, die deren Vorbild folgten, sind viele große Namen bekannt geworden, wie zum Beispiel der des frühen, sehr berühmten kalabrischen Dichter-Philosophen Ennius, von dessen Werken leider nichts weiter erhalten geblieben ist als einige wenige verstreute Zitate, die von zeitgenössischen Dichtern und anderen Schriftstellern zu verschiedenen Zeiten aufbewahrt wurden. Doch schon aus diesen verstreuten Zitaten gewinnen wir ein wenig Wissen über das, was dieser Große des Altertums gelehrt hat. Später folgte dann Vergil mit seinen wunderbaren Werken, besonders der Aeneis (Buch VI, Vers 724 ff.). Noch später, in anderen Ländern um das europäische Mittelmeer herum, lehrten Jamblichos, Plotin, ja die ganze leuchtende Reihe der neuplatonischen Philosophen – es waren große Männer, und zu dieser Reihe gehörten ebenfalls auch einige Frauen –, und alle waren Reinkarnisten.

Die alten Perser, Chaldäer und Babylonier, die alten Teutonen, die Druiden Westeuropas und die keltischen Rassen im Allgemeinen waren Reinkarnisten. Wie auch anderwärts üblich, hielten sie an der allgemeinen Lehre in der einen oder anderen Form fest. Die allgemeine Lehre wurde in ihren verschiedenen Phasen von jedem Einzelnen unterschiedlich verstanden und interpretiert, jeweils gemäß der individuellen Einsicht und philosophischen Fähigkeit.

Ägypten

Einige moderne Gelehrte behaupten und stellen dies als eine Tatsache hin, dass die alten Ägypter nicht an irgendeine Form der Reinkarnation geglaubt hätten. Hierin irren sich die Ägyptologen vollkommen, und die Zeit wird dies vollständig beweisen — zur Bestürzung zumindest einiger der mehr dogmatischen Gelehrten unter ihnen. Für europäische Gelehrte vor Young und Champollion war es immer eine Tatsache, dass die alten Ägypter wirklich an einer Art der allgemeinen Lehre von der Wiederverkörperung festhielten, wahrscheinlich, wie gesagt werden kann, an einer ihrer Formen metempsychoser Reinkarnation. Die alten ägyptischen Manuskripte sowohl der älteren Dynastien als auch der späteren alexandrinisch-griechischen Epoche bestätigen diesen Glauben durchaus, wenn man beim Lesen die universell angenommenen Ideen im Auge behält, die in den Ländern um das Mittelmeer verbreitet waren. Die früher akzeptierte Auffassung unter den Europäern, dass die alten Ägypter „Reinkarnisten“ waren, gründete sich weitgehend, aber vielleicht nicht ganz auf die Aussagen und ziemlich zurückhaltenden Erklärungen des großen griechischen Philosophen und Historikers Herodot.

Metempsychose
Metempsychose ist ein griechisches zusammengesetztes Wort, das kurz mit „Beseelung nach Beseelung“ oder „Wechsel von Seele auf Seele“ wiedergegeben werden kann. Das Wort Metempsychose enthält die spezifische Bedeutung, dass die Seele einer Wesenheit, sei diese eine menschliche oder eine andere, sich nicht lediglich von einer Beschaffenheit zur anderen bewegt, nicht nur von einem Zustand zum anderen wandert (was die Definition des Wortes Transmigration in sich schließt) oder von Körper zu Körper, sondern auch, dass sie ihrem innersten Wesen nach eine unteilbare Essenz ist, die als individuelle Monade ihren eigenen, besonderen Lauf auf dem evolutionären Pfad verfolgt, wobei sie „Seele“ auf „Seele“ annimmt. Die Abenteuer und Erlebnisse, die der Seele beim Annehmen oder Übernehmen von „Seele“ auf „Seele“ zustoßen, werden in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff Metempsychose zusammengefasst.
(Siehe: Gottfried von Purucker: Esoterische Philosophie – Wörterbuch. Hannover, 1990, S. 159)

Dieser große Grieche verbrachte lange Zeit in Ägypten. Er mischte sich nicht nur vertraut unter das Volk, sondern hatte auch, wie es in seinem Werk heißt, freien Zutritt zu den Tempeln und unterhielt sich mit den gelehrten Priestern über esoterische und verborgene Dinge.

Er schrieb u. a.: „Es waren die Ägypter, die sich zuerst zu der Lehre äußerten, die besagt, dass die Seele (Herodot gebraucht hier das Wort „Psyche“) unsterblich ist und dass, wenn der physische Körper zerfällt, die Seele in ein anderes Lebewesen eingeht, das in dem Augenblick bereit und geeignet für sie ist. Nachdem sie (die Seele) durch alle festen, flüssigen und luftförmigen Lebensformen hindurchgegangen ist, bekleidet sie sich von Neuem mit dem Körper eines Menschen, der für sie bereit ist. Diese Wanderung oder Transmigration macht sie in etwa 3000 Jahren durch.“ (Buch XI, „Euterpe“, 123).

Die alten Juden

Ein Volk, von dem vielleicht nicht vermutet wird, dass es die Lehre von der Wiederverkörperung oder der Reinkarnation in der einen oder anderen Form gelehrt hätte, sind die Juden. Sie lehrten sie vermittels der Lehrsätze, an denen die Pharisäer von Alt-Judäa festhielten. Desgleichen wurde sie als Hauptpfeiler esoterischen Denkens in der jüdischen Kabbala, der mystischsten geheimen Lehre der Juden, gelehrt und dargestellt. Die Juden glaubten an die Präexistenz und Wiederverkörperung von Welten ebenso wie an die von Menschenseelen, und zwar genauso wie einige der bedeutendsten frühen christlichen Kirchenväter, z. B. Clemens von Alexandrien und Origenes. Wie Plato lehrten auch sie, dass Bewusstsein und Wissen des Menschen in dem einen Leben nur Erinnerungen an Bewusstsein und Wissen aus früheren Leben sind.

Josephus, einer der größten, vielleicht sogar der größte jüdische Historiker schrieb über die Pharisäer:

„Ebenfalls glauben sie, dass die Seelen eine unsterbliche Kraft in sich haben und dass es unter der Erde Vergeltungen oder Strafen geben wird, je nachdem, ob die Menschen in ihrem Leben tugendhaft oder bösartig gelebt haben. Die Seelen der Letzteren müssen in einem ewigen Gefängnis bleiben, aber die Seelen der Ersteren haben die Kraft, wiederholt zu leben“ (Jüdische Altertümer, Buch XVIII, Kapitel I, Abschnitt 3 und 4).

Die Bezugnahme auf einen Teil der menschlichen „Seelen“, die aufgrund eines lasterhaften Lebens in einem „ewigen Gefängnis“ zurückgehalten werden – dies könnte besser mit äonenlanger Strafläuterung übersetzt werden –, drückt denselben Gedanken aus, der auch in allen anderen Ländern des Altertums zu finden ist und sich mit den Seelen befasst, die sich dem Laster hingegeben haben. Die Anspielung auf die erstere Klasse der Seelen, auf jene, die tugendhaft leben, besagt hingegen, dass „sie die Kraft hätten zu wiederholtem Leben“. Dies ist die Lehre von der Wiederverkörperung, die hier nur kurz erwähnt werden kann.

Auch der große jüdische Philosoph und Platoniker Philo Judäus spricht bei mehreren Gelegenheiten sehr nachdrücklich zu Gunsten jener besonderen Form metempsychoser Reinkarnation, die ihn philosophisch und religiös am meisten ansprach und die tatsächlich enge Bande der Ähnlichkeit mit parallel laufenden Ideen von Plato aufweist, seinem großen griechischen Vorläufer, der in Wirklichkeit sein philosophisches Vorbild und Muster war.

In seinem Traktat „Über die Lehre, dass die Träume von Gott gesandt werden“ führt Philo u. a. aus: „Nun steigen einige dieser Seelen auf die Erde hinab mit der Absicht, sich ganz mit einem sterblichen Körper zu vereinigen. Das sind diejenigen, die am engsten mit der Erde verbunden und Liebhaber des Körpers sind. Einige aber schwingen sich empor; sie unterscheiden sich wiederum durch Begrenzungen und Zeiten, die von der Natur bestimmt sind. Von diesen kehren diejenigen, die von dem Wunsch nach sterblichem Leben beseelt und an dieses gewohnt sind, wieder zu ihm zurück. Andere jedoch, die den Körper als sehr töricht und zu nichts tauglich verdammen, nennen ihn ein Gefängnis und ein Grab und fliehen von ihm wie von einem Zuchthaus oder einer Gruft. Auf leichten Flügeln erheben sie sich in die Höhe zum Äther und widmen ihr ganzes Leben erhabenen Spekulationen“ (Die Werke von Philo Judäus, Band II, „Über die Lehre, dass die Träume von Gott gesandt werden“, Buch I, Kapitel XXII).

In den umfangreichen Schriften von Philo Judäus, der, nebenbei bemerkt, ein Zeitgenosse des jüdischen Historikers Josephus war, gibt es noch eine Anzahl anderer Stellen, die sich einschlägig und direkt auf die allgemeine Lehre von der Wiederverkörperung beziehen. Philo verstand diese natürlich und schrieb über sie daher gemäß seiner eigenen besonderen Ansicht metempsychoser Reinkarnation. Ebenso wie in den Auszügen von Josephus finden wir hier dieselbe Atmosphäre des Vertrautseins mit der Lehre der Wiederverkörperung, die keine besondere Erklärung und Ausarbeitung verlangte. Sie wird in seinen verschiedenen Schriften als eine seinen Lesern bekannte Lehre erwähnt und erforderte seinerseits keinen besonderen, erläuternden Kommentar.

 

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Vergil
Vergil (70 – 19 v. Chr.)

 

Herodot
Herodot
(490/480 – ca. 424 v. Chr.)

 

Josephus
Flavius Josephus
(37/38 – ca. 100)

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